Freitag, 7. Mai 2010

Anime-Kult in Frankfurt: Schräge Szene, gleiche Geschichten

Manche Eigenheiten der Japaner sind aus westlicher Sicht durchaus merkwürdig: Händeschütteln ist absolutes Tabu und Frauen verleugnen, dass sie beim Toilettengang Geräusche machen. Doch was dieses Volk hinter strikten gesellschaftlichen Normen verbirgt, lebt es in seiner Fantasie umso mehr aus. Das Ergebnis: eine schräge Popkultur, die bunter ist als wir es je sein könnten. In keiner anderen Kunstform manifestiert sich diese Ideenwelt wohl so sehr wie in der Anime- und Manga-Kunst, die mittlerweile auch in Deutschland eine große Fangemeinde besitzt. Als internationale Main-Metropole und die Stadt mit der zweitgrößten Japandichte in Deutschland (nach Düsseldorf), ist es kein Wunder, dass Frankfurt ein Zentrum für diese Szene ist.

Im Studierendenhaus der Frankfurter Goethe-Universität herrscht reges Treiben. Jedes Jahr kommen hier vier Tage lang Japanologie-Studenten, Anime-Fans und Filmregisseure aus Allerwelt zusammen. Dabei war die Nippon Connection ursprünglich als nur einmalige Initiative einer Handvoll japanbegeisterter Studenten gedacht. Mittlerweile existiert ein eingetragener Verein und das größte japanische Filmfestival der Welt feiert sein zehnjähriges Jubiläum. Die ca. 50 Organisatoren haben alle Hände voll zu tun, denn neben verschiedensten Juwelen aus der japanischen Filmlandschaft gibt es auch Vorträge, Workshops und Partys. „Die Zuschauer sollen sich selbst ein Bild von Japan machen können“, erklärt Pressesprecher Lukas Brehm. Das Programm reicht dieses Jahr von Anime-Märchen wie „Chocolate Underground“ bis hin zu gesellschaftskritischen Nonsens-Filmen wie „Symbol“.

Diese Vielseitigkeit spiegelt sich auch im deutschen Verständnis von Anime wider: Entweder prägen überdrehte Kindersendungen à la Pokémon oder reinste Anime-Pornographie, auch Hentai genannt, das Klischee. Der amerikanische Synchronsprecher und diesjähriger Gast auf der Nippon Connection, Crispin Freeman, hat für sich sogar eine Lebensphilosophie im japanischen Zeichentrick entdeckt. In seinem Vortrag „Anime Mythology“ vergleicht er typische Zeichentrickhelden aus dem japanischen und westlichen Kulturkreis, um sie dann religiös zu interpretieren. Was auf den ersten Blick wie eine mäßige Daseinserklärung für realitätsferne Comic-Nerds wirkt, ergibt am Ende doch irgendwie Sinn: Superman ist eine nach dem Ebenbild Gottes geschaffene Perfektion des Menschen, die von seinem Vater in einem Korb vor einem Waisenhaus ausgesetzt wurde - Jesus lässt grüßen. Superman bekämpft das ultimative Böse und „wenn alles gut geht, hoffen wir, dass die gute Seite gewinnt und wir so Erlösung finden.“

Freeman zeigt damit, dass das Gesamtkonzept des Christentums sich auch ganz gut in Comic-Büchern macht. Die japanische Heldenfigur hingegen ist zwar kein gutaussehender Muskelprotz, aber trotzdem ziemlich cool. Weil es im Buddhismus keinen Gott, sondern vielmehr eine alles durchdringende göttliche Kraft gibt, ist Astro Boy kein Mensch, sondern ein „Giant Robot“. Sein großes Ziel ist es, seinem Besitzer als Vehikel auf dem Weg zur buddhistischen Erleuchtung zu dienen. Statt Opponenten im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit zu bekämpfen, wahrt er mit ihnen ein Gleichgewicht zwischen zwei gegensätzlichen Kräften. Es geht nicht darum, eine ideologische Botschaft zu verteidigen, sondern zum Pfad des vollkommenen Friedens zu gelangen, indem man im Sinne von Yin und Yang sowohl positive als auch negative Kräfte einsetzt. Freeman glaubt, dass viele Animes, wie die Mythologien der Weltreligionen, Geschichten erzählen, die von den elementarsten Erfahrungen des menschlichen Daseins handeln. „Deswegen sind Kinder und Erwachsene gleichermaßen so von Anime fasziniert. Jeder kann sich etwas von diesen archetypischen Botschaften in sein eigenes Leben mitnehmen“, so Freeman.

Man fragt sich schon, warum nur japanische Animationskünstler philosophische Independent-Produktionen wie „Ghost In A Shell“ erschaffen, wo der Zeichentrick im Grunde doch unbegrenzte Möglichkeiten für Kreativität offen lässt. Freeman sieht die Antwort in den Anfangsjahren der amerikanischen Comic-Kunst. Als Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Feind besiegt hatte, verloren Abenteuergeschichten über Superhelden an Dynamik und wurden außerdem durch das aufkommende Fernsehen viel authentischer dargestellt. Langsam etablierten sich auch Gruselreihen wie „Geschichten aus der Gruft“ von EC-Comics. Das konservative Amerika sah in der Entwicklung aber vor allem eine Bedrohung für den Jugendschutz, da Kinder noch als Hauptzielgruppe der Comic-Industrie galten. Mitte der Fünfziger verpflichteten sich die Verlage schließlich zum „Comic Code“- de facto eine Zensur für die aufblühende Szene. So blieb Disney noch lange eine Traumfabrik für Kinder, während das japanische Pendant Osamu Tezuka („Kimba, der weiße Löwe“) schon in den Sechzigern begann, sich reiferen Geschichten zu widmen.

Darin begründet Synchronsprecher Freeman ebenfalls seine unbändige Leidenschaft für den Anime-Kult: „Der japanische Zeichentrick genießt eine künstlerische Freiheit, die ich in den USA oft vermisst habe.“ Auf der Nippon Connection will er vor allem erfahren, wie Anime auf verschiedene Kulturen wirkt, um aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen wieder neue Ideen erschaffen zu können. Denn letztendlich sind die Japaner doch nicht so schräg, wie man es auf den ersten Blick vermuten mag. Im Grunde erzählen sie doch die gleichen Geschichten.

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